THOMAS ZITZWITZ KISS COOL
AUSSTELLUNG 24. Juni - 24. Juli 2022 KÖLN
Ausstellungsansichten © by Simon Vogel, Köln
Ausgewählte Werke (zum vergrößern auf Foto klicken) © by Simon Vogel, Köln
Text: Björn Vedder
Le double effet Kiss Cool
Kiss Cool ist ein französisches Bonbon aus den 1990iger Jahren, das es nicht mehr gibt. Die Werbung versprach damals, dass nach der Einnahme nicht nur der Atem cool sei, sondern dass auch noch etwas anderes, magisches passieren würde: le double effet Kiss Cool. Der Slogan ist mittlerweile ein geflügeltes Wort im Französischen. Auch in Filmen taucht es auf, Kiss Cool.
Thomas Zitzwitz hat sich von dieser Redewendung und der damit verbundenen Erfahrung zu einer Ausstellung inspirieren lassen. Sie versammelt Arbeiten, die zum Teil eigens dafür gemalt worden sind und bei denen sich auch für den Maler ein Kiss Cool-Moment eingestellt hat. Das, was wir als Arbeit an der Wand sehen, ist in vielen Fällen ebenfalls das Ergebnis einer überraschenden und magischen Wendung in der Arbeit, die der Künstler nicht vorhergesehen hat und auch nicht vorhersehen konnte. So entstehen die Rakelbilder oft in einer Art Blindflug: Das mit Pigmenten versehene Acrylgel ist, wenn es frisch aufgetragen wird, undurchsichtig und nebelig. Welche Farbwirkung es im getrockneten und klaren Zustand haben wird, und zu welchem Ergebnis der Auftrag mit dem Rakel führen wird, kann der Maler nur ungefähr abschätzen. Er weiß nie genau, was er eigentlich malt und mithin auch nicht, wann das Bild fertig ist – oder er aufhören sollte. Er bricht die Arbeit einfach irgendwann ab und geht nachhause. Erst wenn er am nächsten Morgen in sein Atelier zurückkehrt, sieht er das Ergebnis – und manchmal schenkt ihm dieses einen dieser wunderbaren Kiss Cool-Momente, die wir in der Galerie Norbert Arns nachvollziehen dürfen.
Das Malen der Spraybilder verläuft in dieser Beziehung ganz ähnlich: auch hier muss sich der Maler auf einen Kiss Cool-Moment einlassen. Kunst heißt eben nicht nur, die Kontingenz zuzulassen, sondern auch mit dem Zufall zu spielen. Dieser Lockerheit korrespondiert eine Lockerheit in der Zusammenstellung der Arbeiten, die nicht so streng ist, wie sie es in anderen Ausstellungen des Malers schon gewesen ist.
Küssen verboten
Zitzwitz bezieht sich damit nicht nur auf die Lockerheit und (Erwartungs-) Offenheit des double effet Kiss Cool, sondern auch auf die neuerliche Erfahrung einer sozialen Strenge, die er z. B. dann machte, als eine Freundin sich über die kleinen französischen Küsschen beschwerte, die er ihr zur Begrüßung geben wollte. Die Bise, einst eingeführt, um mit der Nase nah genug an die anderen heranzukommen, damit etwaige Krankheiten gerochen werden konnten, erschienen ihr in Zeiten nach Corona zu gefährlich. Keine Infektions-Prävention, sondern -Provokation. Das ist vielleicht vernünftig – wie ein Essen ohne Dessert –, aber auch hässlich, weil es nicht nur dem Leben die Süße, sondern dem Zusammenleben den Anstand nimmt, der sich in den Bises etwa darin ausdrückt, dass man denjenigen, den man geküsst hat, nicht mehr ignorieren kann, sondern als gleichen anerkennt.
Schleier über dem Abgrund
Diese Anerkenntnis als Gleiche ist die Grundlage dafür, zivilisiert zusammenzuleben, weil sie unsere Selbstliebe beschränkt und dem Umstand Rechnung trägt, dass wir zu Erfüllung unserer Wünsche und Ziele aufeinander angewiesen sind. Wir sind weder wilde Tiere noch leben wir, wie das Rousseau formuliert hat, in einem Naturzustand, in dem wir nur wollen, was wir können, nur die natürliche Selbstliebe kennen und keine Leidenschaften besitzen, als die unschuldigen Triebe, die die Natur uns schenkte. Wir leben hingegen in der Gesellschaft mit anderen. Wir wollen viel mehr, als wir selbst können, und wir sind deshalb von einer schlimmen Selbstliebe beherrscht, die uns antreibt, „einen Platz zu behaupten, mitzuzählen und als etwas angesehen zu werden“. Rousseau nennt sie „amour propre“ und sagt, es sei eine Leidenschaft, die uns versklavt.
Wie aber können Menschen, die voneinander abhängig sind, weil ihre Bedürfnisse sie dazu zwingen, Forderungen aneinander zu stellen, und die gleichzeitig Sklaven ihrer eitlen Selbstliebe sind, gut zusammenleben? Rousseau sagt, in Freiheit, genauer gesagt, indem sie zur Freiheit gezwungen werden. Zu den Mitteln dieses Zwangs gehört etwa das Gesetz, das die Menschen sich selbst geben und dem sie sich insofern freiwillig unterstellen. Dazu gehört aber auch eine zivilisierte Kultur, die es den einzelnen nicht nur erlaubt, ihrer Selbstliebe insoweit zu frönen, als es die der anderen nicht beschränkt, sondern die auch Rituale der wechselseitigen Anerkennung besitzt, in denen die Menschen sich versichern, dass sie sich als Gleiche schätzen. Eines dieser Rituale sind die kleinen Küsschen und es ist nicht recht, sie ob ihrer Oberflächlichkeit zu verspotten, wie das etwa das französische Komiker-Trio Les Inconnus mit ihrem Song „Salut tu vas bien?“ (1991) gemacht hat. Denn natürlich werden die Abgründe der amour propre von ihr genauso wenig gefüllt wie von den Gesetzen und Freiheitsrechten. Sie alle legen sich nur wie ein dünner Schleier über die tiefen Gruben unserer Herzen. Aber immerhin das tun sie, und mehr können wir in einer Gesellschaft aus Individualisten nicht erwarten. Die Zivilisation ist ein Schleier über dem Abgrund.
Forever Young
Damit ähnelt sie, die Zivilisation, den schönen Flächen, die sich in Zitzwitz’ Bildern über eine leere Tiefe spannen. Wir können diese Spannung zwischen Oberfläche und Tiefe in allen Bildern beobachten. Am stärksten ist sie jedoch in den gesprayten Bildern. Sie zeigen ein wogendes Meer von Farben und Formen, schwebende Züge, die nach Art der Wellen sich heben und senken, und sie erzeugen den Eindruck einer großen Tiefe, die darunter liegt. Diese Tiefe ist jedoch ein Effekt der Oberfläche, denn Leinwände sind glatt gespannt und der Eindruck einer Tiefe dahinter ist nur eine Illusion, die wir uns vor dem Bilde machen.
Hier verbinden sich ästhetische und soziale Erfahrungen der Moderne, Malerei und Zivilisation. Hatte das 18. Jahrhundert noch die geschwungen schönen Linien und ineinander fließenden Formen in der Malerei gerügt, weil es darunter eine abgründige Leere witterte (horror vacui), können wir den Sachverhalt mit Zitzwitz auch anders sehen: Was uns von unseren Abgründen trennt, ist nichts als eine schöne Fläche, die darüber liegt. Und mehr noch, auch die Tiefe ist ein Effekt dieser Fläche. Kein Horror mehr vor der Leere, sondern heitere Versöhnung mit der Kontingenz feiern, eine, wie es der Philosoph Richard Rorty gefordert hatte, ironische Distanz einnehmen – und trotzdem solidarisch sein.
Die Zeit, in der wir das lernen, ist gemeinhin die Jugend. Denn sie ist das Alter, in dem wir einerseits den Kokon der Kindheit abstreifen und in die Gesellschaft eintreten, in der wir jedoch andererseits auch das erwerben, was uns das Leben unendlich erschwert: eitle Selbstliebe. Auch Erwachsenwerden ist ein double effet Kiss Cool. Die Jugendlichkeit, die Frische und die Heiterkeit in den hier ausgestellten Bildern von Thomas Zitzwitz sind mithin nicht nur eine Hommage an die jeunesse dorée, sondern auch eine Erinnerung an die heikle Phase im Leben eines Menschen, in der sich entscheidet, ob er frei oder als Sklave lebt.